Dorothee Götte-Heiss

 

Wie Papier zu Holz wird - oder: Warum Pinocchio eine Marionette bleiben darf

Bleistift- und Buntstiftzeichnungen

Es beginnt wie fast immer mit Besessenheit, mit der im Kopf laut hämmernden Idee, sich selbst ein Gegenüber zu schaffen. In Ton geknetet, in Verse gepackt, aus Steinblöcken gehauen, hastig aufs Papier gebannt: die Kreatur ist fleischgewordene Idee, mal flüchtig und verwerflich, mal vital und selbstbestimmend. Die Kreatur namens Pinocchio, das gewünschte und selbstgeschnitzte Kind aus Holz, gerät, naiven ungetrübten Sinnes und fern vom Schöpfervater, in eine gefährliche Welt voller Schlitzohren und Verlockungen. Unbegreiflich bleiben seinem Holzkopf die Regeln und Gesetze. Er muss sich - glücklicherweise von guten Mächten wunderbar begleitet - durch einen abenteuerlichen Dschungel von Anfechtungen und Bewährungsproben schlagen, um am Ende - wie jeder echte Held - als Lohn für wahre moralische Läuterung das kostbarste Geschenk zu erhalten: die Verwandlung in einen Menschen aus Fleisch und Blut. Wolfgang Folmer alias Meister Gepetto lässt die Puppen tanzen, fängt sie mit dem Stift fast mit einer einzigen sicheren Umrisslinie auf Papier ein, dreht alle beweglichen Glieder, füllt sie mit einer hölzernen Bleistiftmaserung, stellt sie in einer bizarr unzusammenhängenden Welt der Dinge auf den Kopf, verwandelt die Holzfigur in einen leibhaftigen Menschen - und wieder zurück. Die dem Betrachter aus Kinderbuchtagen vertraute und daher nicht ganz zufällig fokussierte Marionette führt allerdings zwischen den spukhaften rumpflosen Torsi, den auf Umrisslinien reduzierten Aktskizzen, den unmaßstäblich und bedrohlich vergrößerten Haustieren kein formales oder inhaltliches Heldenleben. Beinahe zwanghaft vertreiben Bleistift (und gegebenenfalls Buntstift bzw. Ölkreide) jeglichen szenischen Plauderton aus den Einzelblättern, indem Figuren sich rein zufällig in formsinnigen Linien überschneiden oder tangieren, nicht aber sich in Wirklichkeit berühren oder miteinander kommunizieren. Auf dem linken Bild der gegenüberliegenden Seite beispielsweise werden zwei eigenständige, in anderen Blättern variierte Figuren- bzw. Gegenstandsarrangements wie Transparentpapiere übereinander geschoben und so zwei zeichnerische, nicht narrative (!) Handlungsebenen miteinander fusioniert: Auf dem klar zentralperspektivisch konstruierten, farbig schachbrettartig gekachelten Raum wirken die papierweißen, nicht spezifizierbaren ?Untiere? und Architekturbruchstücke wie aufgeklebt. Auf dieses Bild wird eine transparente Folie aufgelegt und dabei die darauf gezeichneten Figuren durch die erste Zeichenebene per Zufallsprinzip mit Farbe gefüllt. Auf den Kopf gestellt und schon dadurch jeglichem bildlichem Erzählzusammenhang entzogen, erscheinen Zeichnungen von Jungen und marionettenhaften Puppen, die hier (mutwillig) als Einzelstadien aus der Metamorphose Pinocchios gelesen werden: Pinocchio als ausdruckslose Holzpuppe in reduzierter Profilzeichnung, ein blickloser Junge aus ?Fleisch und Blut? mit hängenden Schultern und ebenfalls im Profil, eine mit Pinocchioattributen gekennzeichnete hölzerne Gliederpuppe, den Mund geöffnet, schreiend (?), wie im freien Fall die Arme geöffnet, die mehrgliedrigen Beine und Füße schräg nach oben zeigend, ohne Stand - wobei natürlich genau genommen jeglicher Handlungs- oder Bewegungsimpuls zwangsläufig vom Schauenden wild hinzuphantasiert wird. Ist der ebenfalls offensichtlich aus Fleisch und Blut bestehende Junge mit Zipfelmütze eine Illustration des verwandelten Pinocchios? Berechtigte Zweifel scheinen erwünscht zu sein, denn kaum hat der Vollständigkeitsmechanismus des menschlichen Verstandes einen Zusammenhang erpuzzelt, da bringt eine bewusst naiv gezeichnete weibliche Zwergenfigur mit überproportional großem Kopf und taillelos quadratischem Rumpf, offensichtlich einer völlig anderen Stilkategorie angehörend, Unruhe ins vermeintliche Ensemble. Der Baumstamm, dieser ungewöhnliche Druckstock, in den ähnliche Zeichnungen eingeritzt, geschnitten werden, um dann im letzten Schaffensstadium als Druck wieder auf Papier abgebildet zu werden, ist in den Zeichnungen stets mitgedacht, wobei diese nichts an künstlerischer Eigenständigkeit einbüßen. Im Gegenteil: Das beständige Thematisieren und Spielen mit den Materialien des künstlerischen Prozesses eröffnet schier unendliche Welten der zeichnerischen Virtuosität, in denen entstofflichte oder mit artfremder Materie gefüllte Dinge, Figuren und Lebewesen für den Betrachter zu ständig wechselnden, teils befremdlichen, teils witzigen Vexierbildern werden. Figürliche Darstellung wie Akte, Tiere, Puppen oder disproportionierte Phantasiegestalten zeichnet Folmer mit wenigen Linien, ohne illusionistische Schraffur (keine Plastizität, Haarschopflinien ohne Andeutung der haarigen Substanz, Augen ohne Zeichnung der Iris und/oder Pupille usw.), enthebt sie so ihrer eigentlichen Materie und verleiht ihnen teilweise ein neues hölzernes Innenleben, indem die Bleistift- und Buntstiftzeichnungen Holzmaserung, gegebenfalls zusätzlich durch monochrome Farbe unterstützt, als alleinige Binnenzeichnung fungiert. Daneben finden sich aber auch viele ?materialgerechte? Holzobjekte wie Stühle, Hocker, Kommoden oder Bäume - letzterer allerdings durchweg blattlos, comichaft oder als Klötzchentanne aus dem Holzbaukasten. Ihre beständige beruhigende Gegenwart schafft eine vordergründige Plausibilität für das wahnwitzige Verwandlungsspiel, das Folmer mit den Elementen treibt: Wolkenstücke, geflügelte Wesen, Attribute des Elements Luft, schematische Wellenmäander und Ozeandampfer aus der Welt des Wassers und spitzige, grob ?geschnitzte? Wiesenstücke und gezackte Schlangen, auf das Element Erde verweisend. Leicht ist man versucht, sich über allen artistischen Bleistiftspuk hinwegzusetzen, sich nur mit dem bildungsbürgerlich einleuchtenden Etikett des Surrealismus zu bewaffnen und dabei das Wesentliche zu übersehen: dass das Primat des Holzes die Regeln diktiert und den zaubernden Zeichenstift in die Schranken weist. Der auf dem Einzelblatt vermeintlich ungefiltert sprudelnde zeichnerische Bewusstseinsstrom erweist sich in der Zusammenschau mit Zeichnungen ähnlichen Figuren- und Formenvokabulars und erst recht verglichen mit den ?Erzählfriesen? der Baumstämme als hart erarbeitete und sorgfältig konstruierte Traumwelt voller formaler Ironie und teils abgründiger, teils paradoxer Mehrdeutigkeit. Selbst die Schatten führen hier ein Eigenleben, überschneiden bzw. durchdringen sich und wachsen so zu undefinierbaren zweidimensionalen Gebilden zusammen - eine Art "Rorschachakrobatik", die zum Weiterphantasieren nötigt. Der Gleichwertung der Dimensionen entspricht die Gleichzeitigkeit, zuweilen auch Widersprüchlichkeit verschiedener Perspektiven in ein und demselben Bildzusammenhang: Auf einem aufsichtig dargestellten blauen Tisch, der in dem gekachelten Raum mit der rosafarbenen Holzwand offensichtlich keinen realen Stand findet, kopulieren fröhlich zwei streng ins Profil gedrehte, rote, holzgemaserte Hunde, während mit wenigen Strichen angedeutete fleischfarbene Frauenakte ebenfalls ohne Bodenhaftung fast tänzerisch sich in unterschiedliche Richtungen drehen, ohne in Blick- oder sonstigen Interaktionszusammenhang zu treten. Geerdet hingegen und auf dem Schachbrettboden unter dem Tisch zwanglos verteilt sind nostalgische Spielzeugfetische wie Kreisel, Flugzeug, Würfel, Becken schlagender, mechanischer Affe und Bauklötzchen. Diesem auf vielen Zeichnungen immer wieder neu variierten und arrangierten Arsenal perspektivisch zugeordnet erscheint ein ebenfalls mehrfach zitierter unterleibsloser Männertorso im Profil, der wie das Hundepaar und ein vergrößerter Spielzeugtannenbaum auf einem rosa Stuhl durch eine farbig unterlegte Holzmaserung ausgefüllt ist. Dinge und Figuren, oft mit der Ästhetik der Kinderbuchillustration kokettierend oder mit kunsthistorischen Versatzstücken wie Architekturstücken à la De Chirico oder Picassohafter Simplizität jonglierend, tauchen in immer wieder neuen Kontexten und Kombinationen in den Zeichnungen auf und führen so ein beinahe protagonistenhaftes Eigenleben. Der Betrachter wird zwar seinem natürlichen Zwang narrative Stränge daraus zu flechten bewusst überlassen, er gerät aber buchstäblich auf den Holzweg, wenn er versucht, eine Art erzählerische Kohärenz aufzudecken und damit dem Künstler womöglich auf die Schliche zu kommen. Würde auf den Zeichnungen wirklich im ureigensten Sinne erzählt, dann bliebe das Figurenzitat ohne künstlerische Sublimation und wollte damit nichts anderes sein als das Original: pure, wenn auch gut gezeichnete, Illustration. Pinocchio wird auch als Fleischgewordener seine spitze, lange Nase nicht los. Seine moralische Läuterung wird uns erlassen und das Fatum, in der Welt der Menschen nur als Mensch Existenz berechtigt zu sein wird ebenso ad absurdum geführt wie die Herkunft der geflügelten, entmenschlichten oder erigierten Wesen verdächtig, ungeklärt und spannend bleibt.

Dorothee Götte-Heiss

 

Dorothee Götte-Heiss